
Wir Menschen sind soziale Wesen. Um miteinander in Beziehung zu treten, braucht es weit mehr als Sprache und Gestik – es braucht die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Zu verstehen, dass das Gegenüber anders fühlt, denkt, weiß oder glaubt.
Diese Fähigkeit ist nicht angeboren – sie entwickelt sich. Und eine zentrale Phase dieser Entwicklung findet zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr statt: eine Zeit, in der sich das Denken von Kindern grundlegend verändert. In der Entwicklungspsychologie spricht man vom sogenannten 5–7 Shift. Eng verbunden damit ist die Entwicklung der Theory of Mind – der Fähigkeit, mentale Zustände bei anderen zu erkennen und zu interpretieren.
Was es bedeutet, eine „Theory of Mind“ zu entwickeln
Ein Kind, das noch keine ausgeprägte Theory of Mind hat, lebt gewissermaßen in einer Welt, in der alle wissen (oder fühlen) müssten, was es selbst weiß (oder fühlt). Es fällt ihm schwer, sich vorzustellen, dass ein anderer Mensch nicht denselben Zugang zu Informationen hat – oder dieselbe Perspektive.
Mit dem sogenannten Sally-Anne-Test wird in der Praxis getestet wie weit vorangeschritten die Theory of Mind bereits ist: Ein Kind im (Vor)Schulalter beobachtet, wie jemand einen Gegenstand in eine Schachtel legt und den Raum verlässt. Danach wird der Gegenstand heimlich an einen anderen Ort gebracht. Wird das Kind gefragt, wo die Person nach dem Gegenstand suchen wird, antwortet es meist mit dem neuen Ort – also dem Ort, an dem der Gegenstand tatsächlich ist, nicht dem, an dem die Person ihn zuletzt gesehen hat.
Das Kind kann in diesem Moment nicht zwischen seinem eigenen Wissen und dem Wissen eines anderen unterscheiden.
Mit zunehmendem Alter – typischerweise zwischen fünf und sieben – beginnt sich das zu verändern. Kinder lernen zu begreifen, dass andere Menschen Dinge nicht wissen können, die sie selbst wissen. Sie beginnen, mentale Zustände wie Glauben, Wünschen, Täuschen oder Absichten zu erkennen und in ihr Denken einzubeziehen.
Diese Fähigkeit ist die Grundlage für Empathie, Mitgefühl, Verhandeln, Trösten – also für all das, was soziales Miteinander in einer Gemeinschaft ermöglicht.
Was beim 5–7 Shift im Kind geschieht
Der 5–7 Shift ist kein klar umrissener Moment, sondern ein Prozess. In dieser Zeit machen Kinder wichtige kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsschritte, die ihnen ermöglichen, ihr Denken zu differenzieren. Sie erkennen zunehmend, dass die Welt aus mehr als nur ihrer eigenen Perspektive besteht.
Das bedeutet auch: Ein Kind in diesem Alter kann zum ersten Mal wirklich verstehen, dass jemand eine andere Meinung hat, ohne dass diese automatisch „falsch“ ist. Oder dass ein Verhalten vielleicht nicht böse gemeint war, sondern aus Unwissen oder Versehen geschah.
Dieser Perspektivwechsel ist herausfordernd – aber er öffnet Türen. Es ist die Zeit, in der Kinder beginnen, sich mit Regeln auseinanderzusetzen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Handlungen im sozialen Kontext zu reflektieren.
Warum dieses Wissen im täglichen Umgang mit Kindern so wichtig ist
Wenn wir verstehen, wo ein Kind in seiner geistigen Entwicklung gerade steht, können wir Verhalten besser einordnen – und gezielter darauf reagieren.
Ein Kind, das scheinbar „absichtlich“ etwas tut, hat möglicherweise einfach noch keinen Zugang zur Perspektive des anderen. Es kann sein Verhalten noch nicht im Licht von Konsequenzen für andere reflektieren – nicht, weil es nicht will, sondern weil es noch nicht kann.
Wenn wir dieses „noch nicht“ mitdenken, können wir Missverständnisse, Bewertungen und unnötige Konflikte vermeiden. Wir begleiten dann nicht defizitorientiert („Warum tut er das?“), sondern entwicklungsorientiert („Was versteht sie in dieser Situation schon – und was noch nicht?“).
Statt vorschnell zu reagieren, lohnt sich ein Innehalten. Eine kleine Frage an das Kind kann oft mehr bewirken als ein mahnender Zeigefinger:
„Was glaubst du, hat sie gedacht, als das passiert ist?“
„Hast du gesehen, wie er geschaut hat – was meinst du, wie es ihm da ging?“
Kinder lernen durch Beziehung. Und in dieser Phase der Entwicklung brauchen sie Erwachsene, die ihnen helfen, sich selbst und andere besser zu verstehen – nicht durch Erklärungen allein, sondern durch gelebtes Vorbild, durch echtes Zuhören und durch kluge Fragen.
Und wie geht es uns selbst mit all dem?
Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist nicht nur eine kindliche Entwicklungsaufgabe. Auch wir Erwachsene geraten immer wieder an Grenzen: Wir nehmen Dinge persönlich, unterstellen Absichten, fühlen uns missverstanden oder erwarten, dass jemand „doch wissen müsste, was ich meine“.
Dabei zeigen sich oft dieselben Muster wie bei Kindern – nur subtiler.
Auch wir verfallen manchmal in ein Denken, das sich um unsere eigene Sicht dreht – ohne sie bewusst zu machen.
Indem wir verstehen, wie Theory of Mind entsteht und sich entfaltet, können wir auch unser eigenes Verhalten reflektieren. Und wir können bewusster in Beziehung treten – mit Kindern, mit anderen Menschen, und letztlich auch mit uns selbst.
Begleitung für dich als Bezugsperson
Wenn du das Gefühl hast, dein Kind besser verstehen zu wollen – in seinem Verhalten, seinen Gefühlen oder in herausfordernden Situationen –, dann begleite ich dich gerne im persönlichen 1:1-Setting. In einem sicheren, urteilsfreien Raum schauen wir gemeinsam hin: Was braucht dein Kind gerade wirklich? Was macht sein Verhalten verständlich? Und wie kannst du als Mama, Papa oder Pädagog:in liebevoll und klar reagieren?
Du musst nicht alles allein herausfinden – ich bin da, um dich zu stärken.
Fazit
Der 5–7 Shift ist ein Wendepunkt im Leben eines Kindes. In dieser Phase wird der Grundstein gelegt für Perspektivübernahme, Mitgefühl und eigenverantwortliches Handeln. Wenn wir als Bezugspersonen diese Entwicklung begleiten – mit Wissen, Geduld und einem offenen Herzen – können Kinder über sich hinauswachsen.
Und wir vielleicht auch.